Ist Ihnen das auch schon so ergangen, dass Sie zum zweiten Mal an einen Platz kamen, mit dem Sie ganz besondere Erinnerungen und Emotionen verbinden – und der dann bevölkert war wie eine Fußgängerzone und Sie nur fassungslos dastehen und enttäuscht der neuen Realität ins Auge blicken konnten? Oder Sie kamen zum ersten Mal an einen Ort, der noch als Geheimtipp gehandelt wurde und von dem Sie bestimmte Vorstellungen hatten, sei es aus einer Reisebeschreibung oder aus einer Reportage, und wo Sie dann feststellen mussten, dass die Wege nun doch schon ziemlich ausgetreten waren?
Ich kenne das aus eigener Erfahrung, zum Beispiel aus Patagonien, wo ich einst in meiner Reiseleitertätigkeit mehr oder weniger als Pionieranbieterin mit kleinen Gruppen unterwegs war. Damals, als wir vor dem Fitz Roy Bergmassiv zelten „mussten“, weil es dort außer einem Parkwächterhäuschen schlicht nichts gab! Die Anfahrt war abenteuerlich, zur Toilette musste man mit dem Spaten in die Büsche losziehen, mit Lebensmitteln versorgen musste man sich selber weit im Vorfeld und die Wanderpfade hoch zur Gletscherlagune habe ich damals eigens gesucht mit einem Diktiergerät in der Hand, um dann die richtige Route festzuhalten, um sie später mit den Wandergruppen wieder zu finden und mich nicht zu verlaufen. – Wer heute nach El Chaltén kommt, kann sich das nicht mehr vorstellen. Es ist eine kleine Stadt entstanden, die keine Wünsche offenlässt. Neben den zuerst entstandenen Ausrüstungsgeschäften für Bergsteiger gibt es heute alles zu kaufen, was das Herz begehrt. Es gibt Restaurants und Unterkünfte in allen Kategorien – ja, sogar im 5-Sterne-Bereich. Wenn ich heute mit einer Wandergruppe dort unterwegs sein möchte, bin ich verpflichtet, einen einheimischen Guide mit dabei zu haben (was ja vor Ort auch gute Verdienstmöglichkeiten schafft und völlig ok ist!), obwohl jetzt alle Wege ausgebaut und bestens gekennzeichnet sind. Alles hat ein sehr hohes Preisniveau – und trotzdem sind unglaublich viele Besucher vor Ort.
Solche Entwicklungen gibt es vielerorts in Lateinamerika – wahrscheinlich weltweit. Aktuell erleben wir dies in Costa Rica. Leguan Reisen war zur Gründungszeit Pionier für Reisen nach Costa Rica. Das Land gilt als Vorzeige-Reiseland in Punkto Nachhaltigkeit und naturverträglichem Tourismus. Während der diesjährigen Messesaison haben wir schnell gemerkt, dass extrem viele Reiseinteressenten sich Costa Rica als Ihr nächstes Traumziel erwählt haben. Wir und sicherlich auch alle anderen Reiseveranstalter haben sehr viele Anfragen für Reisen nach Costa Rica erhalten. Und mittlerweile auch erste Rückmeldungen über nicht so schöne Entwicklungen… Vermeintliche Geheimtipps scheint es nicht mehr zu geben, zur dortigen aktuellen Hauptreisezeit ist es an manchen Nationalpark-Eingängen so voll, dass es ewig lange Warteschlangen gibt… So stellt man sich die persönliche Entdeckungserkundung im Regenwald nicht vor. Und die Preise steigen exorbitant. Wo führt das hin?
Vor ein paar Jahren hatten wir solch einen Trend auf Kuba. Der scheint nun wieder verebbt zu sein. Auch Peru erlebt immer wieder einen Hype, aktuell legen Brasilien und Mexiko zu. – Wie ich persönlich zu dieser Entwicklung stehe, weiß ich manchmal selbst nicht so recht. Einerseits erschreckt mich manche Entwicklung kolossal, vor allem, wenn ich das Gefühl habe, dass viele Besucher reine Konsumenten und Fotomotivjäger sind. Aber andererseits – woher nehme ich mir das Recht, zu urteilen über andere Reisende und deren Reisemotivation? Ich bin ja selbst Teil der Entwicklung und reise für mein Leben gerne. Und warum sollen Länder oder einzelne Regionen sich nicht weiterentwickeln dürfen und vom wiedererwachten Reiseboom nach der weltweiten Zwangspause doppelt profitieren?
Was ist gesunder und was ist ungesunder Tourismus? – Ist es im Grunde besser, wenn es riesige Hotelburgen und schwimmende Kreuzfahrtgiganten gibt, auf denen sich sehr viele Menschen tummeln und Ihre freie Zeit genießen, weil der „normale Tourismus“ sonst völlig überfordert wird? Auch die individuellen Reisenden werden immer mehr, in etlichen touristisch attraktiven Städten werden die Zimmer knapp und die Mieten klettern ins Unanständige, so dass sich kein Einheimischer diese mehr leisten kann. Auch in Nationalparks steigen die Preise für Eintritt, Unterkunft und Verpflegung manchmal so hoch, dass man nur noch mit dem Kopf schüttelt. Man möchte die Anzahl der Besucher über die hohen Preise regeln. Aber ist das gerecht? Wer profitiert davon und wer sind die Verlierer? – Und wer sind wir, um uns über neu hinzukommende Reisende aus anderen Nationen aufzuregen, die sich vielleicht nicht so verhalten, wie wir es für richtig halten?
Das Ganze ist ein schmaler Grat, auf dem sich die Tourismusentwicklung hier bewegt. Reisen ist ja grundsätzlich wunderbar, denn es fördert den kulturellen Austausch, die Akzeptanz von Andersdenkenden und Anderslebenden, man hinterfragt vielleicht die eigene Lebensweise. Außerdem werden nachweislich durch den Tourismus vielerorts Naturgebiete oder auch kulturelles Erbe erhalten, weil der Tourismus das Bewusstsein für den Wert der Heimat bei den Einheimischen weckt, ihnen zusätzliche Einnahmen verschafft und die nötigen Finanzmittel für den Schutz von Tieren oder Naturregionen bringt.
Eine liebe Freundin von mir meinte einmal „an schönen Plätzen muss man Teilen lernen“. Ich finde, damit hat sie absolut Recht. Dennoch ist es meist so, wenn sich viele Menschen zur selben Zeit irgendwo aufhalten, dass die einzigartige Atmosphäre eines Ortes verloren geht. Das Besondere und Leise wird übertönt von den lauten Stimmen der Besuchermassen. Das Reiseerlebnis vergangener Tage ist durch die ständige Erreichbarkeit sowieso anders geworden. Die unzähligen Posts auf den vielen Socialmedia-Kanälen eines erträumten Sehnsuchtsortes in bestem Licht und in vermeintlicher Abgeschiedenheit können die Realität ja eigentlich nur in den Schatten stellen…
Aber was können wir als Einzelne beim Reisen tun? Für uns selbst für ein schöneres Reiseerlebnis, aber vor allem auch für die Einheimischen und die Zielregionen?
Ich denke, da gibt es schon ein paar Dinge, die man sich zu eigen machen kann, und von denen letztlich alle profitieren:
– Reise nie zur Hauptsaison und nicht in den Hauptferienzeiten, wenn es möglich ist. Die Nebensaison ist in der Regel preislich attraktiver und man muss viele Orte nicht mit so vielen anderen Besuchern teilen.
– Erstelle eine Reiseroute, die sich nicht unbedingt nur entlang der üblichen Highlights entlanghangelt. Oft gibt es herrliche Plätze nur etwas abseits der Hauptroute – und vom Erlebnis mindestens genauso schön. Man kann sich ja auch einen Mix aus Hauptattraktionen mit eher abgelegenen Orten zusammenstellen lassen. (Ich denke da z.B. an Nordperu oder an herrliche Natur-Lodges in Costa Rica, die eben nicht an die bekannten Nationalparks grenzen.)
– Reise langsam – oft ist weniger mehr und lässt Raum für eigene Entdeckungen, die meist dann zum persönlichen Highlight einer Reise werden, „Slow Travel“ also.
– Baue in die Reiseroute auch Besuche von sozialen Projekten, Kommunen, indigenen Gemeinschaften, Naturschutzprojekten etc. ein. Begegnungen machen eine Reise „reich“ für beide Seiten und schenken nachhaltige Erinnerungen. Auch wir als Reisende hinterlassen Spuren in den Zielregionen – und wie schön ist das Gefühl einer echten Begegnung auf Augenhöhe.
– Mache nicht jeden Reisetrend mit. Oft stehen bestimmte Reiseländer plötzlich im Fokus und alle Welt will dann genau dort hin. Auch wenn das Gebiet sehr attraktiv erscheint, lohnt es sich, mit der persönlichen Reise dorthin einfach noch ein paar Jahre zu warten, bis der Hype wieder vorbei ist. Die Welt ist groß und schön – ein gerade nicht so stark besuchtes Ziel kann gerade jetzt die genau richtige Reiseentscheidung sein – für uns als Reisende ebenso wie für die Menschen vor Ort.
„Der Reisende sieht Dinge, die ihm unterwegs begegnen, der Tourist sieht das, was er sich vorgenommen hat zu sehen.“ von G.K. Chesterton
In diesem Sinne bis nächste Woche
Martina Ehrlich
2 Gedanken zu „Vom Kontinent des Kolibris 36 – vom Für und Wider des wachsenden Reisebooms in Lateinamerika“
Immer wieder gern Kolibri -News. Nr.36 frischt auch meine Erfahrungen auf: ein minimalistischer ‘Zeltplatz’ aber mit wundervollem Ausblick auf Fitz Roy, kristallklarer eiskalter Bergsee. Einzig unsere Reisegruppe beseelte diesen Ort, wir waren dankbar ein Teil der Natur zu sein. Wir genossen die Abendstimmung beim Lagerfeuer und erfreuten uns am Farbenspiel des Sonnenunterganges…und dann am nächsten Morgen die Überraschung. Da kam doch tatsächlich ein ‘Platzwart’ und machte uns in einem großen Bottich heißes Wasser: das ist für die Frauen, weil der Bergsee zu eisig ist, meinte er .Das sind unvergessene Begegnungen. Danke Martina für die von dir ausgearbeiteten Reiserouten.
Liebe Ingeborg, das sind wirklich unvergessliche Erinnerungen… Danke für Deinen Beitrag.
So macht jeder seine eigenen Erfahrungen und findet seine “Seelenplätze” – jeder zu seiner Zeit und zu seinen Bedingungen, nicht wahr?
Herzliche Grüße in Reiseverbundenheit – Martina