Es gibt ein paar Länder Südamerikas, in denen ich mich im Laufe meines Lebens schon sehr oft, sehr lange und sehr intensiv aufgehalten habe. Peru ist so ein Land und wenn man die ganzen Zeiten aneinanderreiht, so kommen da gewiss ein paar Jährchen zusammen… Natürlich entwickelt man in solchen Ländern auch Freundschaften, die weit über die touristische Zusammenarbeit hinausgehen und gewinnt Lieblingsorte, die sich über die Jahre ins Herz einschleichen.
Solch eine Region ist für mich die Cordillera Blanca in Peru. Ich liebe die Landschaft der mit Gletschern beladenen hohen Berge, schätze die relative Unbekanntheit beim „normalen Perureisenden“ (nur bei Bergsteigern ist die Region bekannt und begehrt) und den deshalb noch sehr überschaubaren Besucherstrom in dieser Ecke Perus. Ich wandere für mein Leben gerne und habe in der „Weißen Kordillere“ einige meiner schönsten Touren erleben dürfen – sei es alleine oder als Reiseleiterin mit meinen Gruppen. Es gibt dort so viele wunderschöne Bergpfade hinauf zu Gletscherlagunen in den schönsten Blau- und Türkistönen, umrahmt von weißen Bergspitzen vor einem strahlend blauen Himmel. Es gibt wilde Flussläufe eingebettet in satte Hochlandvegetation mit wunderschönen und auch exotischen Blumen. Dazwischen in den etwas niedereren Höhenlagen kleine Gehöfte, die wie seit Urzeiten aus Stein gebaut sind, Terrassenanlagen an den Steilhängen, auf denen Andenhirse, Mais und Kartoffeln angebaut werden. Menschen mit tief ins Gesicht gezogenen Hüten, um sich vor der tropischen Höhensonne zu schützen, die noch mit dem Pflug den Acker bearbeiten oder die Herde von Schafen oder Lamas in den Weiten dieser fesselnden Landschaft hüten. Esel dienen als Lastentiere und werden auch bei mehrtägigen Trekkingtouren eingesetzt. Das Leben scheint hier „in Ordnung und in Frieden“ zu sein – zumindest von außen. (Obwohl man nicht vergessen darf, dass gerade in der Region der Weißen Kordillere die Terrororganisation Leuchtender Pfad in der 80-er Jahren massiv vorging…)
Im Laufe der Jahre habe ich Bindungen zu Menschen dieser einzigartigen Gegend aufbauen können, so dass ich diese als Freunde bezeichnen darf. Die Einblicke in ihren Alltag der bescheidenen Ansprüche und des Lebens mit der sie umgebenden Natur schenken mir Demut und Dankbarkeit für mein eigenes Leben der tausend Möglichkeiten.
Die Cordillera Blanca – also Weiße Kordillere – wird auch als „weiße Braut der Anden“ bezeichnet. Ihr gegenüber liegt die sogenannte Schwarze Kordillere mit niedrigeren Höhen und deshalb keiner Vergletscherung. Getrennt sind sie durch den Callejón de Huaylas, in dessen Tal sich der Rio Santa von Süd nach Nord zwischen den beiden Gebirgszügen etwa 180 Kilometer seinen Weg bahnt. Die Cordillera Blanca gilt mit über 50 Bergen über 5.700 Metern über dem Meeresspiegel als höchste Gebirgskette des amerikanischen Kontinents. Sie beherbergt das höchstgelegene Gletschergebiet der Tropen, mit dem 6.768 Meter hohen Huascarán den höchsten Gipfel Perus und mit der Pyramide des 5.947 Meter hohen Alpamayo den zum weltweit schönsten gekürten Berg!
Die Cordillera Blanca bildet eine natürliche Barriere für die vom östlichen Tiefland aufsteigende Tropenfeuchtigkeit des Amazonas. Die Wolken bleiben an den Gipfeln der Berge hängen und regnen sich dort ab, so dass kein Regen die westliche Wüstenregion erreicht. Von Oktober bis April fallen um die 90 % des jährlichen Niederschlags. Deshalb ist die beste Jahreszeit für einen Besuch der Weißen Kordillere genau in der entgegengesetzten Jahreszeit von Mai bis September. Während der Trockenzeit speisen Schmelzwasser der Gletscher sowie abfließendes Grundwasser den Rio Santa und tragen damit zur Wasserversorgung der Bevölkerung sowie für deren Landwirtschaft, die Versorgung von Wasserkraftwerken und des Bergbaus bei. Leider lässt sich auch in der Cordillera Blanca ein starker Rückgang der Gletscher beobachten, der zum großen Teil auf steigende Temperaturen und veränderte Niederschlagsmengen zurückzuführen ist. Welche Folgen dies mittelfristig für die hier lebenden Menschen haben wird, ist noch gar nicht abzusehen.
Von Lima erreicht man die Weiße Kordillere gut in einer Tagesfahrt und steigt hierbei von Meereshöhe auf über 3.500 Höhenmeter auf! Allein diese Fahrt ist spektakulär, denn ganz anders als vermutet, wird es mit jedem Höhenmeter grüner. Man verlässt die aride Küstenwüste und gelangt in unzähligen Kehren immer höher und höher, kommt durch Kakteenregionen bis in Gebiete, in denen wilde Andenlupinen mit ihren lilablauen Blüten, wilde Nachtschattengewächse und andere bunte Blütenpflanzen dominieren. Und irgendwann sieht man sie dann – die weiten Landschaften mit ihren Lagunen, den Herden der Kleinkamele und den schneebepackten Bergen. Ein beachtlicher Teil der Cordillera Blanca wurde 1975 zum Huascarán-Nationalpark ernannt und schließlich 1985 wegen seiner besonderen landschaftlichen Schönheit und geologischen Merkmale zum UNESCO-Weltnaturerbe erklärt.
Ausgangspunkt für die Erkundung des Huascarán-Nationalparks ist in der Regel die Stadt Huaraz – gelegen auf 3.052 Metern über dem Meeresspiegel und selbst nicht so sehr attraktiv, da sie immer wieder von Lawinen zerstört wurde. So stürzte beispielsweise 1941 ein riesiger Eisturm in den gut 20 Kilometer nordöstlich der Stadt auf 4.566 Metern gelegenen Palcacocha-See, was den Bruch des zum Tal führenden Moränenwalls führte. Die Flutwelle durchbrach zusätzlich einen talabwärts liegenden See, stürzte ein komplettes Tal hinab und riss dabei innerhalb von 15 Minuten alles mit sich. Eine gigantische Schlammlawine erreichte Huaraz kurz vor sieben Uhr morgens, zerstörte große Teile der Stadt und begrub viele Tausend Menschen unter sich. Auch 1970 wurde Huaraz nochmals durch ein Erdbeben erschüttert, bei dem schätzungsweise 10.000 Menschen ums Leben kamen. Die Stadt musste jeweils fast vollständig neu aufgebaut werden und ist eher zweckmäßig als schön. (Natürlich wurden in der Vergangenheit auch etliche andere kleinere Orte von Erdbeben und Erdrutschen mit Schlammlawinen heimgesucht – ganz bekannt ist hier das Unglück in Yungay.) Man findet in Huaraz Unterkünfte jeder Kategorie, etliche Outdoor-Geschäfte, Agenturen für Bergsteiger und Wanderer – und das war’s auch schon. Für die Einheimischen ist die etwa 55.000 Einwohner zählende Stadt ein Umschlagplatz der landwirtschaftlichen Produkte aus dem Callejón de Huaylas sowie der Produkte aus dem Bergbau der Kordilleren. Es gibt einen wichtigen Busbahnhof, die beste Krankenversorgung der Region usw.
So beliebt die Weiße Kordillere bei Bergsteigern ist, so wenig bekannt ist sie ansonsten bei Reisenden. Zu stark ist der Fokus in Peru auf die alten faszinierenden Kulturen gerichtet, da fällt die grandiose Natur des Landes in der Regel „hinten runter“. Dabei kann Peru mit vielen exorbitant schönen Regionen punkten. Eine davon ist gewiss mein Sehnsuchtsort, die Cordillera Blanca. Zu gerne erinnere ich mich an Begebenheiten zurück wie z.B. diese, als wir mit unserer Reisegruppe im Hochland beim wilden Campen im schönsten Nachmittagslicht beim Tee sitzen, als plötzlich eine Schar von Kindern oberhalb einer Felsmauer auftaucht und uns zuschaut, als säßen sie vorm Fernseher beim spannendsten Krimi aller Zeiten. Erst scheu, dann immer kecker kommen wir in Kontakt und die Begegnung wird für alle Seiten ein Höhepunkt der gesamten Reise. Die Kinder nehmen anschließend frisches Essen und ein paar wärmende Kleidungsstücke mit nach Hause – und gewiss genug zu erzählen und zu lachen.
Auch dies gehört zu meinen intensivsten Erlebnissen in der Cordillera Blanca – der Tod einer lieben, in Huaraz lebenden Schweizer Freundin. Ich war zufällig genau zum Zeitpunkt ihres Todes vor Ort, blieb da und wurde Teil des kompletten Prozesses und Teil der trauernden Gemeinschaft. So viel Würde, Zuwendung, Liebe und Achtung vor einem verstorbenen Menschen habe ich selten erlebt. Eine ganze Woche lang war ich eingebunden ins Abschiednehmen, Tag und Nacht Wachehalten, in die Suche nach einem guten passenden Ort für die Bestattung und natürlich bei der Beerdigung an sich. Heute liegt Jenny mit Blick auf ihre geliebte Weiße Kordillere neben einem mini Bergfriedhof, der nur per langem Fußmarsch erreichbar ist, wo sie vor ein paar Jahren nach langer Prozession mit Andenmusik und vielen Blumen begraben wurde. Ich werde dies nie vergessen.
Über die Berge, die Gletscher, die Lagunen, die Wanderpfade und die Menschen der Region könnte man noch lange schreiben. Aber eigentlich muss man sie erleben, sich erwandern, die kalte Luft atmen, den Blick in dem reinen Weiß der Bergspitzen baden, über die herrlichen Blumen staunen und in die leuchtenden Augen der Bauern blicken…
Wenn Sie da auch mal hinmöchten – melden Sie sich. Ich organisiere das für Sie. Aber Achtung – die Cordillera Blanca könnte sich auch in Ihr Herz graben…
Eine schöne Sommerwoche
Martina Ehrlich