Da ich Ihnen in diesen Wochen Bolivien intensiv vorstelle, komme ich um die jahrhundertelange Ausbeutung der bolivianischen Bevölkerung nicht drum rum…
Bolivien besitzt und fördert schon immer wertvolle Bodenschätze, die es eigentlich zu einem blühenden Land machen sollten. Doch die goldenen Finger verdienten sich zu allen Zeiten nur ein paar Wenige im In- und Ausland…
Bolivien hatte einst einen Zugang zum Meer. Im sogenannten Wüstenkrieg um die Salpeterstätten verlor Bolivien seien Pazifikhafen und hat seitdem seine bescheidene Marina am Titicacasee stationiert. Ebenso verlor Bolvien dabei die Wüstenregion um Calama und damit eine der größten Kupferminen, die Chile zum weltgrößten Kupferexporteur machten.
Die meisten Bolivianer leben im Hochland ein entbehrungsreiches Leben geprägt von Kälte und harter Arbeit in den Minen sowie in der Landwirtschaft. Es sind die Feste, die den Menschen den Alltag erwärmen und die graue staubige Umgebung mit knalligen Kostümen und Dekorationen aufhellen. Nicht umsonst sind die Umzüge und Karnevalsveranstaltungen in den Minenstädten Oruro sowie Potosí am farbenprächtigsten. Oruro liegt auf 3.700 Metern über dem Meeresspiegel und bezeichnet sich als Folklorehauptstadt Boliviens, der berühmte Karneval zählt seit 2001 gar zum immateriellen Weltkulturerbe der Menschheit.
Kommt man jedoch außerhalb dieser Festzeiten nach Oruro, so sieht alles ziemlich trostlos aus. Viele staubige Erdpisten, einfache unverputzte Häuser, Müll an den Straßenrändern, Rauch aus kleinen improvisierten Schmelzen an den Stadträndern und dazwischen streunende Hunde, verstrubelte Kinder und sonstige sich vor Sonne, Wind und Kälte schützende Bewohner in einfacher Kleidung.
Es gibt ein Museum in Oruro, das etliche kostbare Gegenstände des einstigen Zinnbarons Simón Ituri Patiño, ausstellt. Ebenso laden zwei Minenmuseen zum Besuch ein. Sie sollen Aufschluss über die harte Arbeit der Minenarbeiter geben. In Vinto, etwa acht Kilometer östlich von Oruro, kann man eine Besichtigungstour in einer der größten Zinnschmelzen Südamerikas buchen. Doch geben diese Besuche einen echten Aufschluss darüber, wer die drei berühmten Zinnbarone Boliviens wirklich waren und wie die Menschen im Zeitalter von Aluminiumfolie, Tuben und Dosen im 19. Jahrhundert die Welt eroberten? – Ich habe vor Jahren mal ein Buch über Simon Ituri Patiño gelesen, das es heute laut meiner Recherche anscheinend nirgendwo mehr zu kaufen gibt. Dieses Buch hat mich zutiefst berührt und erschüttert…
Simón Ituri Patiño wurde zwischen 1860 und 1862 als Mestizen-Sohn einer indigenen Mutter und eines Europäers geboren und wuchs in sehr ärmlichen Verhältnissen in der Nähe von Cochabamba auf. Er war zuerst Lehrling im Bergbau und wurde später der Angestellte eines kleinen Handels für Bergbauausrüstung. Dabei erwarb er sich viel Hintergrundwissen rund um die Minen, den harten Alltag der Minenarbeiter sowie die Probleme der Minenbesitzer. Einer seiner Kunden besaß kein Geld, um Patiño zu bezahlen. Stattdessen erhielt er eine Besitzurkunde über eine Mine in der näheren Umgebung. Sein Chef kündigte ihm daraufhin. Patiño nutzte sein angesammeltes Wissen sowie seinen Geschäftssinn – und er hatte die richtige Nase für das „Metall der Zukunft“. Während alle Minenbesitzer nach wie vor nach Gold und vor allem Silber schürfen ließen, konzentrierte sich Patiño auf Zinn! Lange Zeit war er enttäuscht, weil immer nur Silber in seiner erworbenen Mine gefunden wurde. Doch seine anfangs als völlig wertlos angesehene Mine entpuppte sich schließlich als wahrer Glücksfall, als dort eine Zinnerz-Ader entdeckt wurde. Patiño war überglücklich und sollte Recht behalten. Seine Beharrlichkeit wurde belohnt, Zinn wurde zum begehrtesten Mineral seiner Zeit und mit seinem angelernten Geschick der vergangenen Jahre baute er überraschend schnell sein Zinn-Imperium auf.
1919 kontrollierte er die Firma William, Harvey & Co., Ltd. in Liverpool und ab 1924 besaß er um die 50 Prozent der bolivianischen Zinnproduktion. Im selben Jahr gründete er mit britischem Kapital die Patiño Mines & Enterprises Consolidated Inc. mit Geschäftssitz in Delaware und kontrollierte schließlich acht Zinnproduktionsorte sowie die europäische Verarbeitung bolivianischen Zinns. Er wurde neben Moritz Hochschild und Carlos Victor Aramayo zu einem der drei mächtigen bolivianischen Zinn-Barone und galt als einer der reichsten Männer seiner Zeit. Während Aramayo und Hochschild die meiste Zeit in Bolivien lebten, verlegte Patiño seinen Wohnsitz überwiegend nach Europa. Zwischen den Jahren 1926 bis 1947 war er bolivianischer Gesandter in Paris. Er war verheiratet und hatte fünf Kinder. Die drei Namen Patiño, Hochschild und Aramayo wurden lange Zeit vor allem mit der brutalen Ausbeutung indigener Bergleute assoziiert. Und es war vor allem Simón Ituri Patiño, dem jegliche Menschlichkeit in Bezug zu seinen Landsleuten verloren ging. Einzig der persönliche Profit und sein hohes Ansehen in der Welt prägten sein Handeln. Oft verleugnete er seine halb-indigene Identität und Bolivien als seine Heimat, bezeichnete das Land mitsamt seinen Bewohnern als Menschen dritter Klasse. Wenn er Portraits von sich malen ließ, musste der Künstler ihn bewusst größer und „europäischer“ mit hellerer Hautfarbe darstellen – ansonsten drohten ihm harte Strafen…
Den sogenannten Palacio Portales in Cochabamba, den er sich im Stil des Eklektizismus als Alterssitz erbauen ließ, hat Patiño aus gesundheitlichen Gründen nie bezogen. Er starb als Superreicher 1947 in Buenos Aires. In Bolivien gab es 1952 eine große Revolution und einer der wichtigsten Kernpunkte für die Befriedung der Bevölkerung war die Enteignung der Zinnbarone sowie die Nationalisierung des Bergbaus. Die prächtige Villa in Cochabamba kann noch heute besichtigt werden.
Was der Lebensweg von Patiño aufzeigt, ist die Tatsache, dass es nicht nur andere Staaten sind, die die Bolivianer zum „Bettler auf dem goldenen Thron“ machten, sondern auch einzelne Bolivianer selbst, die aus purem Eigennutz ihre persönliche Macht und Ihren Reichtum auf dem Rücken der „einfachen Menschen“ austragen.
Wo man das Minenleben der Arbeiter noch heute fast so wie „früher“ nachempfinden kann, darüber schriebe ich nächste Woche.
Bis dahin – seien Sie gegrüßt –
Martina Ehrlich