Vom Kontinent des Kolibris 67 – Vom Meer in den Bergen
„Vor langer, langer Zeit bestrafte der Schöpfergott Viracocha sein Volk. Er ließ eine Dürreperiode über das Land kommen, welches vorher regenreich und fruchtbar gewesen war. Daraufhin beteten die Menschen die Sonne an, sie möge sich ihrer erbarmen. Inti, der Sonnengott, bemerkte die Vorgänge auf der Erde alsbald, und er erhörte die Bitten der Menschen. Inti schickte Pumas auf die Erde. Sie sollten den Menschen helfen und sie in die Freiheit zu fruchtbareren Landstrichen führen.
Stattdessen fraßen die Pumas die Menschen. Als der Sonnengott Inti bemerkte, was auf der Erde geschehen war, begann er zu weinen. Er weinte und weinte und weinte – so lange, bis das gesamte Tal mit seinen Tränen gefüllt war. Die Pumas erstarrten dabei zu kahlen grauen Inseln im Tränensee. „Tränensee der Pumafelsen“ heißt in der Sprache der Hochlandindigenen vom Volk der Aymara „Titicaca“!“
Dies ist eine unter den Andenbewohnern erzählte Legende zur Entstehung des Titicacasees.
Nach den nüchternen Fakten betrachtet liegt der Titicacasee am nördlichen Ende des Altiplanos auf gut 3.800 Metern über dem Meeresspiegel und ist damit der höchstgelegene schiffbare See der Erde! Er bedeckt eine Fläche von knapp 9.000 Quadratkilometern mit einer ungefähren Länge von 170 Kilometern Länge und 64 Kilometern Breite und ist damit etwa zwölfmal so groß wie der Bodensee. Der Titicacasee ist der größte See innerhalb der Anden und wird auch als Andenmeer bezeichnet. Seine riesige Wasserfläche wirkt wie ein gigantischer Sonnenkollektor und mildert das extreme Klima des Hochlandes etwas ab, so dass hier bessere Bedingungen für die Landwirtschaft herrschen.
An seiner tiefsten Stelle ist der Titicacasee etwa 280 Meter tief, wobei der Wasserstand je nach Niederschlagsmenge von Jahr zu Jahr erheblich schwankt. Zur Hochzeit der Tiwanaku-Kultur soll der See bis an den Rand der ehemaligen Stadt gereicht haben, heute liegen die Ruinen der einstigen Stadt etwa 20 Kilometer vom Seeufer entfernt. Durch den Titicacasee verläuft die bolivianisch-peruanische Grenze. Zu Peru gehören etwa 3/5 der Seefläche, zu Bolivien etwa 2/5. Der Titicacasee besteht aus einem „großen“ (Ch’ukuito) und einem „kleinen“ (Winay Marka) Seeteil, beide sind durch eine schmale Stelle von nur 800 Meter beim bolivianischen Tiquina miteinander verbunden.
Ungefähr 95% des von den Bergen und durch Regenfälle zufließenden Wassers verdunstet durch die extrem starke Sonneneinstrahlung, wodurch der See von Jahr zu Jahr ein bisschen salzhaltiger wird. Er weist bereits heute einen höheren Salzgehalt auf als die meisten Seen. Die restlichen 5% entwässert der See über seinen einzigen Abfluss, den Rio Desaguadero. In den letzten Jahren verliert der Titicacasee immer mehr an Wasser und der Bestand an Fischen geht stark zurück, was für die Bevölkerung an den Ufern des Sees immer mehr zum Problem wird.
Aufgrund seiner Tiefe und dem in der Trockenzeit meist blauen Himmel erstrahlt der See bei Sonnenschein in einem unglaublich leuchtenden Blau. Bei schlechtem Wetter wirkt er grau und ungemütlich mit zum Teil recht beachtlichem Wellengang. Die Wassertemperatur bleibt ganzjährig konstant bei 10-12 Grad Celsius. Viele Inseln ragen aus dem See, wobei die Sonneninsel und Mondinsel in Bolivien sowie Taquile und Amantaní in Peru die bekanntesten und meistbesuchten sind.
Die besondere Schönheit des Titicacasees wird zusätzlich durch die im Osten aufragende schneebedeckte Königskordillere mit etlichen Sechstausendern verstärkt – bei klarem Wetter ein unvergesslicher Anblick! Solch ein erhabener Ort verbunden mit der natürlich zustande kommenden Klimamilderung und den damit einhergehenden angenehmen Lebensbedingungen haben den See schon bei den alten Kulturen zu einem sehr heiligen Ort gemacht. Und er ist es für die Andenbewohner bis zum heutigen Tag geblieben. Rund um den See fand man etliche alte Zeremonienplätze und Reste von Palästen aus der Tiwanaku- sowie der Inka-Kultur.
Sogar die Legende der Entstehung des Inkareiches nimmt am Titicacasee ihren Anfang. So berichtete der inkastämmige Adlige Garcilaso de la Vega in seiner „Historica General de Perú“ im 16. Jahrhundert: „Der Sonnengott Inti schickte seine beiden Kinder, das Geschwisterpaar Manco Kapac und Mama Occlo, zur Erde hinab, damit sie die Welt verbessern sollten. Auf der Sonneninsel im Titicacasee erreichten sie die Erde und von hier aus traten sie die Reise zu den Menschen an. Der Sonnengott gab ihnen einen goldenen Stab mit auf den Weg, und überall, wo sie sich zum Schlafen oder Essen niederließen, sollten sie versuchen, den Stab in die Erde zu stoßen. Lange Zeit wanderten sie umher, und jeden Abend versuchten sie vergeblich, den Stab in die Erde zu versenken. Endlich gelang es ihnen, ihn so tief in den Boden zu stoßen, dass er versank. Hier gründeten sie ihre Hauptstadt Cusco. Von den Eingeborenen wurde das Geschwisterpaar aufs Höchste verehrt. Manco Kapac aber machten sie zu ihrem Herrn und Fürsten. Er war der erste Inka.“
Die Sonneninsel, was so viel wie „Sitz der Sonne“ bedeutet, liegt etwa einen Kilometer nordwestlich des Festlandes und gehört zum bolivianischen Staatsgebiet. Ihr früherer Name stammt aus der Aymara-Sprache und war Isla Titicaca, was Pumafelsen heißt (titi = Wildkatze, caca = Felsen) – siehe Legende.
Einstmals zur Hochzeit der Inka sollen auf der Sonneninsel um die 3.500 Menschen gelebt haben. Da die Westseite der Insel ziemlich felsig ist, leben heute fast alle Bewohner auf der östlichen Inselseite. Es gibt aktuell drei größere Dörfer, deren Sprache das Aymara ist. Auf der nahen Insel Taquile, die gut von der Sonneninsel aus zu sehen ist, spricht man Quechua – die alte Inkasprache.
Überall auf der Sonneninsel sind alte Terrassenanlagen aus der Inkazeit zu sehen. Teilweise werden sie schon lange nicht mehr benutzt, liegen brach und fallen der Erosion zum Opfer. Andere werden von den Bewohnern nach wie vor bewirtschaftet, das milde Klima inmitten des Sees schafft beste Voraussetzungen für ergiebige Ernten. Bewässert wird nicht, einzig der Regen in der Regenzeit bewässert die Felder. Angebaut werden Grundnahrungsmittel wie Mais, Andenhirse, Andenkartoffeln und Saubohnen, die für ihren intensiven Geschmack berühmt sind und auf vielen Märkten des Festlandes feilgeboten werden. Auch Mais gelingt sehr gut, und da Mais als eine von den Göttern bevorzugte heilige Pflanze gilt, wird auch heute der Sonneninsel der Status eines heiligen Ortes zugesprochen.
Vor 1954 war der Grund und Boden der Sonneninsel über viele Jahre hinweg im Besitz von nur zwei Haciendas, also zwei Familien. Erst die große Landreform Boliviens änderte dies, und das Land ging an die Campesinos über. In Yumani ist noch der Gebäudekomplex einer Hacienda zu sehen.
Die heutigen Bewohner halten sich Schafe, Lamas und Alpakas und nutzen außerdem den zunehmenden Tourismus als willkommene zusätzliche Einnahmequelle. Vor gut zwanzig Jahren verirrten sich nur wenige Besucher auf die Sonneninsel, heute ist sie fast „Pflichtprogramm“. Ein schöner Wanderweg wurde von den Gemeinden mit gespendeten Geldern gepflastert, in Yumani entstehen alljährlich neue Restaurants und Unterkünfte.
Der Ortsname Yumani bedeutet aus der Inkasprache übersetzt „Priester“. In dieser Bucht landeten einst die Pilger mit ihren Booten an der Sonneninsel an, stiegen über die von den Inkas angelegte Inkatreppe auf den Inselrücken hinauf, wuschen sich an der Heiligen Quelle und begannen ihren Pilgerweg über den Inselrücken bis nach Pilkokaina zur Pilgerstätte. Dort findet man heute noch die Ruinen der Anlage der Pilgerstätte, die von so vielen Menschen des Inkareichen aufgesucht wurde, denn laut Legende sollen genau hier die ersten Inkas Mama Occlo und Manco Kapac aus den Tiefen des Sees gestiegen sein und auf der Sonneninsel gelebt haben. Dies soll etwa 1.300 Jahre vor Christus geschehen sein…
Ob es tatsächlich so war? – Keine Ahnung, aber die Sonneninsel inmitten des blau strahlenden Titicacasees mit den weißen Spitzen der vergletscherten Königskordillere am Horizont hat bis heute etwas Magisches…
Ihnen wünsche ich eine „magische Woche“
Martina Ehrlich