Letze Woche habe ich kurz über die vier verschiedenen in Südamerika vorkommenden Kleinkamele und dann speziell über das Guanako geschrieben. Diese Woche soll es nun mit der zweiten Wildform weitergehen, dem Vikunja.
Vikunjas (= Lama vicugna oder Vicugna vicugna) sind kleiner und zierlicher als Guanakos. Ihr Lebensraum unterscheidet sich komplett von dem der Guanakos und sie kommen sich damit absolut nicht in die Quere. Während die Guanakos in Patagonien und in den Anden bis maximal 3.500 Meter über dem Meeresspiegel vorkommen, bevölkern die Vikunjas die Andenhochflächen und Bergflanken darüber. Vor allem in Bolivien und Peru sind sie in den Hochanden weit oberhalb der Baumgrenze bis maximal 5.000 Meter anzutreffen und haben damit die extremste Höhenverbreitung aller Huftiere des amerikanischen Kontinents. Um in solch eine Höhe existieren zu können, haben sie im Verhältnis zu ihrem Körpergewicht ein sehr großes Herz und kommen mit der „dünnen Luft“ bestens zurecht.
Mit ihrem hellen, rötlich-orangenen Fell sind sie dabei bestens an ihre Umgebung angepasst und von weitem deshalb gar nicht so leicht auszumachen. Ihr Bauch und die Innenseiten der Beine sind weiß. Sie haben einen schlanken Körper und einen langen Hals, ihr Kopf ist klein und keilförmig, ihre Ohren sind schlank und spitz. Vikunjas haben eine Schulterhöhe von 85 bis 90 Zentimeter und ein Gewicht von maximal 45 Kilogramm. Männchen und Weibchen sind äußerlich nicht zu unterscheiden, sie sind gleich groß und wiegen ungefähr gleich viel.
Das Territorium eines Leithengstes mit seiner Herdeumfasst um die 30 Hektar, wobei sie ein Revier als Weideland und eines als Schlafraum benutzen. Schon eine halbe Stunde nach der Geburt kann ein Fohlen einem Menschen davonlaufen. Und ein erwachsenes Tier kann ein Tempo von bis zu sechzig Stundenkilometer erreichen! Vikunjas sind grundsätzlich sehr gesellig und leben in Herden von etwa zwölf Tieren zusammen. Eine Familiengruppe besteht aus einem Hengst, dem sogenannten Relincho, mehreren Stuten und bis zu 15 Monate alten Jungtieren. Hengste ohne Anhang sind Junggesellenrudel ohne festen Anführer. Diese versuchen durch Kämpfe ein paar Stuten einem anderen Rudel abzugewinnen und eine eigene Familie zu gründen.
Vikunjas haben als Wärmedämmschicht das allerfeinste Vlies der Welt entwickelt und auch ihr Fleisch gilt als ausgesprochen schmackhaft. Und diese beiden Tatsachen haben den außergewöhnlichen Tieren fast den Gar ausgemacht…
Die Wolle der Vikunjas wurde schon von den alten indigenen Völkern und so auch von den Inkas sehr geschätzt. Das Vlies der Vikunjas hatte eine kultische Bedeutung für sie und war viel wertvoller als zum Beispiel Gold oder Edelsteine. Ausschließlich der Sapa Inka – der Gottkönig des Inakvolkes – und sein engster Kreis durfte Kleidung aus Vikunjawolle tragen. Und nur die besten Spinnerinnen und Weberinnen durften diese Kleidung herstellen. Angeblich erhielt der Sapa Inka jeden Tag ein neues Gewandt.
Die jährliche Treibjagd auf die Vikunjas war eine geregelte und festgelegte Staatsaktion, fast eine Art Zeremonie. Ungefähr 30.000 Menschen nahmen daran Teil und es wurden dabei etwa 30.000 bis 40.000 Vikunjas eingefangen und geschoren. Man ging sehr sorgsam dabei vor, um den Erhalt der wertvollen Tiere zu garantieren. Es wurden sehr, sehr lange Menschenketten gemacht und die Vikunjas wurden so in eine Enge eines Taleinschnittes getrieben, aus dem sie nicht mehr flüchten konnten. Man hat nur erwachsene Tiere eingefangen und geschoren, trächtige Weibchen und Jungtiere hat man sofort wieder freigelassen. Und nach der Schur wurden alle Vikunjas wieder in Freiheit entlassen. Es soll während des Inkareiches um die 1,5 Millionen Vikunjas in den Anden gegeben haben!
Die Spanier erkannten nach Ihrer Eroberung des Inkareiches rasch die Qualität der Vikunjawolle und wollten sich natürlich auch daran bereichern. Nur dass sie eine sehr radikale Art anwendeten, denn zum Zwecke der Schur töteten sie die Tiere, weil es für sie leichter und effektiver war. Das leckere Fleisch verspeisten sie. Auf diese Weise wurden massenhaft Vikunjas getötet und 1960 lebten laut einer Zählung nur noch ca. 10.000 Vikunjas (1965 ca. 6.000 Vikunjas) in den Anden. Die Internationale Artenschutzkonvention (CITES) setzte das Tier auf die rote Liste und untersagte damit auch den Handel mit der Wolle.
Dr. Alfonso Martinez Vargas richtete schließlich das erste Schutzreservat in Peru ein, nämlich Pampa Galera. Weitere Vikunja-Schutzgebiete sind Ulla Ulla in Bolivien sowie Salinas und Aqua Blancas in Peru. Dr. Vargas schaffte es 1987 sogar, den Handel mit Vikunjawolle unter strenger Kontrolle wieder zu ermöglichen. Dazu sind die Hochlandbewohner fest miteingebunden, die alte Form der Treibjagd sowie das schonende Schären wurden wieder erlernt.
Es gibt heutzutage eine Firma in Arequipa, die die wertvolle Wolle verarbeiten darf. Alle drei bis vier Jahre geben Vikunjas nur etwa 200 bis 400 Gramm feinste Wolle. Um die Wollernte mit den durchschnittlich zwei bis vier Zentimeter langen Fasern von nur einem einzigen Tier zu reinigen, braucht eine Frau etwa drei Tage. Sie arbeitet dabei mit Mundschutz und Ärmelschonern, damit nichts von dem kostbaren Vlies verloren geht, dessen Bezahlung grammweise erfolgt. Die Endprodukte kann man in schicken Boutiquen in Arequipa erwerben – bei entsprechendem Geldbeutel! Die Kosten für einen schmalen Männerschal liegen bei etwa 800,- Dollar, für eine breite Frauenstola bei etwa 1.200,- Dollar und für einen Mantel bei etwa 30.000,- Dollar. Vikunja gilt als etwa fünfmal so teuer wie Kaschmir!
Durch die Schutzgebiete und die schonende Nutzung der Wolle haben sich die Bestände erfreulich rasch erholt, es soll heute wieder etwa 350.000 erwachsene Vikunjas in den Anden geben!
Und mit diesen positiven Nachrichten verabschiede ich mich bis nächste Woche
Martina Ehrlich