Manchmal kommt es mir vor, als seien die wahren Heldinnen und Helden aus Forschung und Geschichte nur einem kleinen Kreis von Menschen bekannt, speziell in ihrem Heimatland. Was im Fall von Maria Reiche aus Deutschland gewiss zutrifft.
Haben Sie schon einmal von Doktor Maria Reiche gehört? Vielleicht, wenn Sie schon einmal in Peru waren. Aber ansonsten? – Dabei verdient dieses für die Forschung opferbereite Leben durchaus Beachtung und Wertschätzung. Was die in Dresden geborene Maria Reiche zumindest in ihrer Wahlheimat Peru im Laufe ihrer Tätigkeit erfahren durfte. Heute ist ihr zu Lebzeiten bewohntes Haus am Rande der Panamericana Sur zu einem kleinen, aber sehr sehenswerten Museum mitten in der Wüste umfunktioniert.
„Ich wollte weg. Irgendwohin. Das war aus mit den Nazis für mich. Europa war wie unter einer dunklen Wolke. Ich empfinde solche Sachen sehr: Wenn irgendwo ein großes Unglück passiert, dann bin ich den ganzen Tag melancholisch, ich weiß nicht warum. Deswegen hab ich die Anzeigen in den Zeitungen gelesen, wo man jemanden suchte. Und da suchte man jemanden für Peru.” (Quelle: radioDoku)
Im Jahr 1932 kommt Maria Reiche als 29-jährige junge Frau nach Cusco, um dort die Kinder eines deutschen Konsuls zwei Jahre lang zu unterrichten. Zuvor hatte sie in Hamburg Mathematik, Physik und Geographie studiert, sieht jedoch in ihrer Heimat keine Perspektive mehr für sich. Nach den zwei Jahren in der Konsul-Familie bleibt sie in Peru, weil sie von der Region rund um Cosco völlig fasziniert ist, vor allem von den archäologischen Orten und der tief verankerten Geschichte der ursprünglichen Volksgruppen vor Ankunft der Europäer in Peru. Es ist in dieser Zeit nicht einfach für Maria Reiche, sich finanziell über Wasser zu halten. Dazu nimmt sie verschiedene Gelegenheitsjobs an, präpariert Totentücher der Paracas-Mumien aus dem Küstentiefland, gibt Sprachunterricht und übersetzt Texte vom Deutschen ins Spanische und umgekehrt.
Währenddessen lernt sie Paul Kosok kennen – einen Historiker und Geschichtsprofessor aus den USA, der sich stark für Archäologie und für alte Bewässerungssysteme interessiert. Er kommt 1941 nach Peru und beschäftigt sich intensiv mit den viele Rätsel aufgebenden Linien von Nasca. Kosok veröffentlicht seine These, dass die Pampa von Nasca mit ihren geheimnisvollen Linien der größte existierende astronomische Kalender der Welt sei. Maria Reiche ist Feuer und Flamme für Kosoks Theorie, wird seine Schülerin und findet in der Erforschung des Rätsels von Nasca ihre große Lebensaufgabe. In der Wüste der Pampa de Nasca findet sie alles, was sie interessiert: Mathematik, Astronomie und Archäologie. Ihr Traum ist es, in der Pampa von Nasca zu lesen wie in einem riesigen Geschichtsbuch…
Knapp 50 Jahre ihres Lebens opfert sie der Erforschung der Linien, geometrischen Formen und Bilder und das im Prinzip ohne Geld oder viel Unterstützung. Dabei lebt sie extrem spartanisch und geht regelrecht fanatisch in ihrer Arbeit auf. Bei 40 Grad im Schatten marschiert sie durch die Wüste, fährt manche Strecken per Anhalter und übernachtet zum Teil mitten in der Wüste in einem Zelt oder später in ihrem vom peruanischen Staat gespendeten VW-Bus. In ihrem abgelegenen, einfachen Lehmhaus lebt sie ohne Strom und Wasser. Oft ernährt sie sich tagelang nur von Bananen und Erdnüssen.
“Für viele ist es zu öde und verlassen, für mich ist es mein Land, und ich fühle mich eins mit dem weiten Himmel, dem dunklen steinigen Boden und der weiten Ebene, auf der ein Mensch sich verliert wie ein kleiner unsichtbarer Punkt in der Ferne. Ich spüre bei der Arbeit nicht Hunger und Durst und älter werden.” (Quelle: www.maria-reiche.de)
1946 findet sie vom Boden aus ihre erste Figur – die Spinne. Dabei entdeckt sie zuerst die freigescharrte kurvige Linie des Hinterleibs und vermutet eine Menschendarstellung. In der Wüstenlandschaft legt sie die gefundene Form mit Papierstreifen aus, die sie schließlich abends in ihrem Büro maßstabsgetreu auf ein Millimeterpapier überträgt. Sie ist völlig begeistert und aus dem Häuschen, als sich letztendlich die ästhetisch wunderschön geformte Spinne bei der Übertragung entwickelt… Maria Reiche entdeckt noch einen Vogel, eine Blume, eine Libelle, einen Wal sowie einen Affen.
Wenn man vor den Linien am Boden steht, sind diese eigentlich überhaupt nicht zu erkennen. Selbst die Künstler der Nasca Linien haben ihre Darstellungen wahrscheinlich nie im Ganzen sehen können. Heute kann man in kleinen Fluggeräten Rundflüge über das Gebiet machen, um einen Eindruck der Nasca Linien zu bekommen. Auch Maria Reiche will in den Fünfzigerjahren in die Luft, um die Bilder besser sehen und auch fotografieren zu können. Dabei scheut sie weder Aufwand noch Gefahr, besorgt sich 1955 eine gute, jedoch riesige und zehn Kilogramm schwere Kamera und lässt sich selbst zusammen mit der Kamera unten an die Kufen eines Hubschraubers festbinden. Natürlich ist es für sie sehr schwierig, das Ungetüm von Kamera still und gerade zu halten. Wie der Start und die Landung abgelaufen sind, kann man sich kaum vorstellen. Spätestens von diesem Flugexperiment an galt sie für alle Beobachter als die „verrückte Doktora Reiche“.
Sie sucht jahrelang nach einer Maßeinheit, nach der alle Zeichnungen erstellt wurden und sie ist überzeugt davon, dass sie damit des Rätsels Lösung finden kann. Nach 15 Jahren Forschungsarbeit hat sie laut ihrer Meinung diese Maßeinheit gefunden – sie spricht von der Elle, die am Körper gemessen werden kann und geht dabei von 32,5 Zentimetern aus.
Jeden Tag ist sie draußen in der Wüste und betreibt Feldforschung. Allabendlich überträgt sie dann ihre Messungen und zeichnet im Kerzenschein an ihren Plänen. So entsteht mehr und mehr eine umfassende Skizze der Linien und Figuren.
Mit über 90 Jahren ist Maria Reiche erblindet, sie leidet an Parkinson sowie an Hautkrebs. Dennoch arbeitet sie weiter und lässt sich zum Teil per Huckepack und im Rollstuhl zu den Nasca Linien bringen. Am 8. Juni 1998 stirbt sie als 95-Jährige in einem Krankenhaus in Lima. Ihr Lebenswerk geht in die peruanische Geschichte ein. Sie trug maßgeblich zur Bekanntheit und auch zum Erhalt der Nasca Linien bei. So konnte sie z.B. 1955 ein Bewässerungsprojekt der Regierung stoppen, welches die Pampa de Nasca zu Ackerland umgestalten wollte. Ihr Grab liegt neben ihrer einstigen Lehmhütte in der Pampa de Nazca-Linien nahe der Panamericana Sur.
Maria Reiches Theorie ist mittlerweile sehr umstritten. Zu Lebzeiten hat sie auch nie andere Theorien anderer Forscher zugelassen. Sie kämpfte wie eine Löwin für ihre Sache und ließ keine anderen Meinungen zu. Ihrer jahrelangen Berechnung nach sind die ganzen Zeichnungen von Nasca tatsächlich ein großer astronomischer Kalender. Dabei stellen die Figuren einzelne Sternbilder dar und die langen Linien zeigen auf sehr helle Sterne am Himmel. So soll die Spinne den Orion darstellen und der Affe den Großen Bären verkörpern.
Von den führenden Forschern der Neuzeit wird ihr vorgeworfen, sehr einseitig geforscht zuhaben. Sie stellte stets ausschließlich die Sachverhalte vor, die ihre eigene Theorie stärkten und untermauerten. Widersprüchliche Ansätze ignorierte sie. Neueste Erkenntnisse über das Volk der Nasca sowie deren Lebensbedingungen ließ sie unbeachtet. Fragen wie „Warum sollten Menschen gerade in einer Nebelwüste ein Sternobservatorium errichten, wo die Sonnenuntergänge oft nicht spektakulär sind und meist der Nebel nachts die Sicht versperrt?“ – Mittlerweile gibt es viele Ergebnisse in der Forschung, die Maria Reiches These widerlegen.
Die Nasca Linien gehören seit 1994 zum UNESCO Weltkulturerbe der Menschheit. Sie sind dennoch nicht wirklich gesichert für die Nachwelt, denn wie will man eine über 500 Quadratkilometer große Wüstenfläche nachhaltig schützen? Auch Regen, unachtsame Aktivisten, eine unsinnige Wüstenrallye oder einfach ignorante Menschen gefährden bis die Wüstenscharrbilder.
Wie schon anfangs erwähnt, ist Maria Reiche in Deutschland nahezu unbekannt. In Peru hingegen kennt jedes Kind ihren Namen und sie wird tief verehrt. Noch zu ihren Lebzeiten erhielt sie die höchste Auszeichnung der Republik Peru – den sogenannten „Sonnenorden“. Ihr Geburtstag ist Nationalfeiertag und der Flughafen von Nasca trägt ihren Namen.
Bis nächste Woche –
Martina Ehrlich